Reiter

Sozialisation und Digitale Medien

Patrizia Breil
Definition - worum geht’s?

Grundlage der Sozialisationsforschung ist ein Verständnis von Sozialisation als einem „Interaktionsprozess […], der das gesamte Leben erfasst und die Beziehung zwischen der sich entwickelnden Persönlichkeit und den umgebenden sozialen und materiellen Strukturen einschließt“ (Bauer/Hurrelmann 2021: 22). Es geht also sowohl darum, inwiefern gesellschaftliche Bedingungen das Individuum beeinflussen, als auch darum, wie sich das Handeln des Individuums auf seine Umwelt auswirkt.

Die Mediensozialisationsforschung befasst sich mit ebenjener wechselseitigen Interaktion unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Medien und stellt daher maßgeblich folgende zwei Fragen:

Was machen Menschen mit Medien (und Medieninhalten)?

Was machen Medien (und Medieninhalte) mit Menschen?
Relevanz für die pädagogische Praxis – wo macht’s sich bemerkbar?
Grundsätzlich ist das Sprechen über Medien oft normativ aufgeladen. Auch in der Forschung finden sich kulturpessimistische, medieneuphorische und kritisch-optimistische Argumentationen. Zu beachten ist dabei aber, dass sowohl kulturpessimistische als auch medieneuphorische Forschung sich häufig dadurch auszeichnet, dass die Forschungslage einseitig und sehr selektiv dargestellt wird und die Nutzung von Medien etwa unreflektiert als maximal gesundheitsschädlich abgeurteilt oder ebenso unreflektiert als Heilsbringer propagiert wird. Eine kritisch-optimistische Perspektive bemüht sich dagegen um eine ausgewogene Darstellung der Forschung und diskutiert sowohl Chancen als auch Risiken der Mediennutzung.

Die normative Haltung gegenüber Medien beeinflusst die Vorstellung davon, welche Rolle Lehrkräften bzw. Schule und Bildung insgesamt in Bezug auf Medien zukommt. Während bewahrpädagogische Ansätze sich weitgehend pessimistisch zur Aufgabe machen, Jugendliche vor den negativen Auswirkungen der Mediennutzung zu bewahren, zielen andere Ansätze auf die durchdringende Reflexion der Wirkweisen von Medien und ihren Inhalten oder zielen auf ein kritisches Medienhandeln.

Hurrelmanns Modell der produktiven Realitätsverarbeitung (MpR) ist ein Beispiel für einen Ansatz, der dem Handeln mit Medien eine große Rolle zuschreibt. Medien werden nicht passiv konsumiert wie einst Massenmedien wie der Fernseher, sondern Nutzer:innen nehmen eine produktive Rolle ein und erstellen selbst Medieninhalte, z.B. in Sozialen Medien.

Unter einer kritisch-optimistischen Perspektive auf die Chancen und Risiken der Mediennutzung muss also auch diskutiert werden, wie Schüler:innen dazu befähigt werden können, digitale Medien produktiv für ihre Entwicklung und Sozialisation in ihrer Lebenswelt einzusetzen.
Eingang in die pädagogische Praxis – wie kann’s in den Unterricht eingebunden werden?

Durch die Interdisziplinarität des Forschungsfeldes ergeben sich verschiedene Zugänge und Schwerpunkte.

Aus entwicklungspsychologischer Sicht wird diskutiert, wie digitale Medien und die Inhalte, die sie vermitteln, eingesetzt werden (können), um bestimmte Entwicklungsaufgaben wie z.B. den Aufbau einer positiven Einstellung zum eigenen wachsenden Körper, zu unterstützen.

Soziologische Theorien thematisieren nicht übergeordnete Entwicklungsaufgaben, sondern Besonderheiten der aktuellen gesellschaftlichen Lage wie heute etwa die Identitätsbildung im Kontext von Sozialen Medien.
Kommunikationswissenschaftliche Zugänge befassen sich z.B. mit der Frage, wie mit digitalen Medien kommuniziert wird und wie dieses kommunikative Handeln zur Realitätskonstruktion beiträgt. Auch die Medien selbst setzen kommunikative Mittel ein, um mit potentiellen Nutzer:innen zu kommunizieren.

Eine medienpädagogische Fragestellung ist schließlich, wie Jugendliche zu einem souveränen und kompetenten Medienumgang befähigt werden können.

Die Mediensozialisation von Jugendlichen kann im Unterricht eine sehr konkrete Rolle spielen. Etwa wenn im Deutschunterricht mit der Aufgabe, einen Blog aus der Sicht von Goethes Werther zu verfassen, dafür sensibilisiert wird, wie sich die zwischenmenschliche Kommunikation durch die Digitalisierung gewandelt hat. Oder wenn in Gemeinschaftskunde die Rolle von digitalen Nachrichtenmedien für Wahlkampf und politische Mitbestimmung analysiert und diskutiert wird. Oder aber wenn im Biologie- oder Ethikunterricht die Chancen und Gefahren von Sozialen Medien bei der Herausbildung eines positiven Selbstwert- und Körpergefühls reflektiert werden.
Beispiele

Auf der Webseite Schau Hin! werden generelle und thematisch differenzierte Fragen in Bezug auf die Medienumwelt von Kindern und Jugendlichen adressiert und Anregungen für den sinnvollen Umgang mit dem Medienhandeln von Kindern und Jugendlichen gegeben.

Im Projekt Play Your Role werden spezifisch zum Thema Hate Speech verschiedene Workshopformate für Schule und Unterricht vogestellt und inklusive Material zur freien Verfügung gestellt.
Eine Frage der Mediensozialisation ist beispielsweise, wie die Bildung der eigenen Identität mit und durch digitale Medien vonstattengeht. Das folgende Video illustriert die Vielschichtigkeit einer solchen digital gestützten Identitätsbildung. 
Literatur - Evidenz

Aufenanger, S. (2020). Mediensozialisation. In: U. Sander, F. von Gross, & U. Hugger (Hg.), Handbuch Medienpädagogik (S. 1–8). Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25090-4_8-1

Bauer, U., & Hurrelmann, K. (2021). Einführung in die Sozialisationstheorie. Das Modell der produktiven Realitätsverarbeitung. 14. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz.

Süss, D., Lampert, C., & Trültzsch-Wijnen, C. W. (2018). Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung. 3. Auflage. Wiesbaden: Springer VS.


Zitiervorschlag:

Breil, P. (2022, März). Sozialisation und Digitale Medien. In Digitalisierung in der Lehrerbildung Tübingen (TüDiLB) (Hrsg.), Evidenzbasierte Hinweise zum Einsatz digitaler Medien im Lehr-Lernkontext.
Inhaltlich aktualisiert am 19.05.2020

Zuletzt geändert: 14. Sep 2022, 16:28, [j.kemmler]