Einfach die Hoffnung nicht aufgeben

Von Manuela Walter

Seit der Geburt ihrer Tochter stellt sich Antje Abt täglich der Aufgabe, ein behindertes Kind zu betreuen. Professionelle Hilfe wurde ihr kaum angeboten.

Als vor fünf Jahren die kleine Lilly nach einer schweren Geburt mit Hilfe der Saugglocke zu Welt kam, war ihre Mutter glücklich und erleichtert zugleich. Lilly, ihr erstes Kind, lebte. Es hatte die blonden Haare von der Mutter und die Augen vom Papa geerbt.
Aber schon bald mussten sich die Eltern die ersten Sorgen machen. Bereits am Tag der Geburt stand fest, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmt. Lilly hat kleine runde Augen, weit hinten liegende Ohren sowie ungewöhnlich kleine Hände und Füße. Diese Merkmale deuten im Normalfall auf das Down-Syndrom hin, aber bei Lilly war der Test auf Down-Syndrom negativ. Die schiefe Lidachse, welche das auffälligste Merkmal für das Down-Syndrom ist, hat Lilly von ihrem Papa geerbt, der kerngesund ist.

Eine Diagnose wird gesucht

Nach einer Woche Klinikaufenthalt wurden die Eltern mit dem Säugling nach Hause geschickt. Von nun an begann die Zeit der Ungewissheit. Das Baby aß zwar im Vergleich ungewöhnlich viel, erbrach aber ständig und wuchs kaum. An ihrem ersten Geburtstag konnte Lilly kurzzeitig alleine sitzen, während ihre Altersgenossen schon die ersten Schritte wagten.
„Unser Kinderarzt nahm unsere Sorgen nicht ernst. Er war der Meinung, dass Lilly einfach für alles etwas länger braucht“, erzählt die Mutter. Aber die Ungewissheit wurde unerträglich. Die Eltern wechselten den Arzt.
Nachdem Untersuchungen des Hormonhaushaltes, des Stoffwechsels, der Gene und speziell der Chromosomen-Enden keine Auffälligkeiten zeigten, besuchten die Eltern die neurologische Abteilung der Universitätsklinik in Tübingen. Aber auch dort konnte man sich Lillys Entwicklungsverzögerung nicht erklären.
Trotzdem versuchte Antje Abt alles, um ihrem Kind zu helfen: Krankengymnastik, rhythmische Massagen, Heilpraktiker, Osteopath, Ergotherapie, ein ambulanter Besuch in der Klinik für Kinderneurologie und Sozialpädiatrie Maulbronn, Heilpädagoge, Orthopäde und Psychotherapeut. Heute sind die Eltern mit ihrem Latein am Ende. Sie haben beschlossen, an Lilly nicht weiter „herumzudoktern“. Antje Abt räumt aber ein: „Ich weiß nicht, wie es Lilly nun ginge, wenn wir nicht so viel ausprobiert hätten.“ Die Eltern fanden sich mit der Vermutung ab, dass ihre Tochter wahrscheinlich einen Gen-Defekt hat, der mit den heutigen Mitteln noch nicht festzustellen ist.

Das Kind geht auf den Zehenspitzen

Fest steht: Lilly entwickelt sich langsamer als ein normales Kind. Sie konnte erst mit zweieinhalb Jahren feste Nahrung zu sich nehmen, ohne sich ständig zu verschlucken oder zu erbrechen.
Antje Abt mit Lilly

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Die Störung in ihrer Motorik behindert Lilly in ihrem Alltag am meisten. Sie stolpert immer noch sehr viel, hat große Mühe, mit einem Löffel zu essen, und das Anziehen der Hausschuhe ist jedes Mal eine Herausforderung. Normale Dinge wie Dreiradfahren oder Ballspielen musste Lilly erst mühsam lernen.
Aber das eigentliche Problem ist die unerklärliche Körperspannung, unter der Lilly steht. Die Medizin bezeichnet dies als hyperton. Lillys hypertone Körperspannung verursacht, dass sie nahezu ständig auf Zehenspitzen geht.
Die andauernde Gewichtsverlagerung auf die Fußballen, auch Spitzfuß genannt, beginnt Lillys Beine zu verformen, was ihre Mutter angstvoll beobachtet, denn das Auf-den-Zehenspitzen-Gehen verursacht auf längere Sicht einen Beinlängenunterschied. Dieser wird durch die Überstreckung des Kniegelenkes auf der Gegenseite (medizinische Bezeichnung: Genu recurvatum) verursacht, was wiederum zu einem chronischen Schiefstand des Beckens und einer Verkrümmung der Wirbelsäule führt. Um das zu verhindern, ließ die Mutter spezielle Einlagen für Lillys Schuhe anfertigen, aber diese haben nur einen mäßigen Erfolg. Sie erschweren es dem Kind zwar, auf den Zehenspitzen zu gehen, verhindern es aber nicht.

Lilly schlägt öfter mal zu

Wenn man weiß, dass Lilly schon fünf Jahre alt ist, fallen die körperlichen Defizite am stärksten auf; sie wirkt wie eine Dreijährige. Doch auch an ihrem sozialen Verhalten ist manches ungewöhnlich. Besonders mit ihrem ausgeprägtem Selbstbewusstsein und ihren sprunghaften Stimmungsschwankungen hat ihre Mutter zu kämpfen. Lilly beansprucht sehr viel Aufmerksamkeit. Bekommt sie einmal nicht die gewünschte Zuwendung, wirft sie auch mal ein Spielzeug nach ihrer Mutter.
An manchen Tagen kann man dem kleinen Mädchen nichts recht machen und das Kinderzimmer wird zum Kriegsschauplatz. Dann ist Lilly unberechenbar: Im ersten Moment ist sie fröhlich, aber sobald etwas nicht nach ihrem Kopf geht, bekommt sie einen Wutanfall nach dem anderen. Sie brüllt dann so laut, dass es die Nachbarn hören. „Da hilft nur ruhig bleiben“, sagt Antje Abt. „Bin ich selbst auch mal schlecht drauf und zeige Schwäche, dann merkt Lilly das und reizt mich umso mehr.“ Das kostet die Mutter Nerven und viel Geduld.
Zusätzlich muss Antje Abt immer aufpassen, wie Lilly auf andere Kinder oder Tiere reagiert. Passt sie einmal nicht auf, so hat Lilly schon den kleinen Jungen aus der Kindergartengruppe mit einem gezielten Schubs zu Boden gestoßen oder sie tritt nach einem Hund, bis der zu jaulen beginnt. Sie schreckt auch nicht davor zurück, plötzlich und ohne erkennbaren Grund Erwachsenen ins Gesicht zu schlagen, die sich zu ihr hinunterbeugen.
Dagegen hilft nur das Prinzip: „Wie du mir, so ich dir“. Weder vernünftiges Erklären noch Drohungen oder Strafen beeindrucken die Kleine. Es hat die Mutter sehr viel Überwindung gekostet, ihrem Kind auch an den Haaren zu ziehen, wenn die Kleine mit beiden Händen an ihrem Haarschopf zerrte, aber nur so war Lilly davon zu überzeugen, es zu lassen. „Nur die Androhung, dass ich ihr auch an den Haaren ziehe, beeindruckte Lilly nicht. Zuerst zog ich nur zaghaft, aber erst als es ihr auch wehtat, ließ sie los.“
Wehrt sich Lillys Opfer nicht, wie Gipsie, der Hund von Antje Abts Freund, so nutzt Lilly jede Gelegenheit, ihre Überlegenheit auszuspielen. Sie quält den Hund regelrecht. Wenn man die Kleine fragt, warum Mama jetzt böse ist, dann sagt sie: „Weil ich Gipsie getreten habe.“ Aber bei der nächsten Gelegenheit tut sie das Gleiche wieder. „Das macht mich manchmal wahnsinnig“, räumt Antje Abt ein.

Im Kindergarten ist sie Außenseiterin

Lillys Eltern leben seit zwei Jahren getrennt. Die Beziehung zerbrach aus Gründen, die mit Lilly nichts zu tun haben; aber die außergewöhnliche Belastung durch das schwierige Kind hat die Trennung beschleunigt. Lillys aggressives Verhalten macht ihren Eltern derzeit am meisten Sorgen.

Wo Eltern Rat finden

Hat auch Ihr Kind eine ungewöhnliche Entwicklungsstörung? Im Laufe der Recherchen erfuhr unsere Reporterin, wie Eltern schneller kompetenten Rat finden können, als es Antje Abt gelungen ist.
Frühförderstellen gibt es in jedem Landkreis, und generell gilt, dass sich besorgte Eltern mit jedem Problem an die Frühförderstellen wenden können, wo sie Beratung und Hilfe erhalten. Wichtig ist dabei aber, sich an eine interdisziplinäre Stelle zu wenden, da die Eltern dort eine „Rundumversorgung“ erhalten.
„Bei dem Erstgespräch mit den Eltern wird erst einmal eine Bestandsaufnahme gemacht“, erklärt Jürgen Keil, Sozialpädagoge und Leiter der Interdisziplinären Frühförderstelle in Esslingen. „An diesem Gespräch können auch die Erzieherinnen des Kindes und die Schulpsychologin teilnehmen, wenn die Eltern das wünschen.
Dann werden alle Unterlagen, die es über das Kind gibt, etwa die Akten des Kinderarztes, gesichtet und eine ausführliche Anamnese erstellt. Erst dann werden in Zusammenarbeit mit den Eltern die nächsten Schritte besprochen.“
Das Besondere an der interdisziplinären Stelle ist die Zusammenarbeit mit allen Personen, die mit dem Kind zu tun haben. „Es wird sehr häufig der Kinderarzt in die Arbeit mit einbezogen, aber auch die Erzieherinnen“, sagt Keil. Zum Team der interdisziplinären Stelle zählen unter anderen ein Sozialpädagoge, zwei Ergotherapeuten, eine Heilpädagogin und eine Logopädin, die bei Bedarf in die Behandlung mit eingeschlossen werden und das Kind dann weiterbehandeln.
Die Interdisziplinäre Frühförderstelle arbeitet ambulant und mobil (auch Hausbesuche sind möglich) und bietet neben der Beratung und Förderung der Eltern Therapien für die Kinder und die Familie, unterstützt die Arbeit der Erzieherinnen im Kindergarten, und leitet gegebenenfalls eine andere Stelle im Frühfördersystem weiter.
Jürgen Keil hält es persönlich für sehr wichtig, durch seine Arbeit den Eltern das Gefühl zu geben, dass es jemanden gibt, der bei Bedarf Hilfestellung leistet und an den man sich wenden kann, ohne Angst davor haben zu müssen, als schlechte Eltern zu gelten. Auch Antje Abt hat sich dazu entschlossen, sich an die Interdisziplinäre Frühförderstelle in Esslingen zu wenden.
Brauchen Sie auch Hilfe oder möchten sich beraten lassen? Wenden Sie sich an den Sozialen Dienst in ihrer Stadt. Adresse und Telefonnummer lassen sich leicht mit Hilfe des Telefonbuchs ermitteln. Auch ihr Kinderarzt und die Erzieherinnen ihres Kindes haben fast immer die Adresse auf Nachfrage zur Hand.
Wenn sie in der Gegend wohnen und sich an Jürgen Keil in Esslingen wenden möchten: Interdisziplinäre Frühförderstelle des Landkreises Esslingen (IFS), Städtische Kliniken für Kinder und Jugendliche, Hirschlandstr. 97, 73730 Esslingen am Neckar, Tel.: 0711/3103-3501, ifs-landkreis@kliniken-es.de

Vergangenen Sommer entschlossen sie sich, Lilly von einem heilpädagogischen Kindergarten in den örtlichen Kindergarten wechseln zu lassen. „Wir wollten Lilly die einstündige Busfahrt zu der 20 Kilometer entfernten Einrichtung ersparen und hofften, dass Lilly durch den Kindergartenwechsel Kontakt zu anderen Kindern aus der Gegend bekommt.“
Aber die Integration Lillys in die schon bestehende Gruppe funktioniert nicht richtig. Lilly wird gehänselt und sie reagiert darauf mit Gewalt gegenüber anderen Kindern, was sie noch mehr zur Außenseiterin werden lässt. Das Mädchen ist in einem Teufelskreis gefangen.
Die Auswahl des Kindergartens war für die Eltern eine schwere Entscheidung. „Wir wollten, dass Lilly so normal wie möglich aufwächst, vor allem weil sie geistig so fit ist“, erklärt die Mutter. Aber momentan stoßen die Erzieherinnen und die Mutter an ihre Grenzen.
Antje Abt hoffte auf die Hilfe einer Psychotherapeutin, aber die lehnte die Behandlung ab, weil Lilly in ihrem Verhalten noch zu kleinkindhaft ist und eine Therapie daher keine Erfolgsaussichten hätte.
Also haben die Eltern eine Integrationskraft bei der Frühförderstelle des Landes beantragt. Vorsichtshalber wurden die Eltern auf eine zweimonatige Wartezeit vorbereitet, bis jemand zu Lilly in den Kindergarten kommt und das Kind speziell fördert. Durch das außergewöhnliche Engagement der Betreuerin von der Frühförderstelle konnte schon nach vier Wochen eine Integrationskraft für Lilly gefunden werden.
Bis es so weit war, mobilisierte die Mutter immer wieder Verwandte und Freunde. Sie trug ihnen auf, ihr Kind früher aus dem Ganztageskindergarten abzuholen, um die Situation etwas zu entschärfen. „Wenn ich nicht arbeiten müsste, wäre es einfacher. So habe ich jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn Lilly von morgens um sieben bis nachmittags im Kindergarten ist.“

Die Mutter blickt besorgt in die Zukunft

Wenn man sieht, wie Antje Abt immer wieder neue Kraft findet und trotz aller Schwierigkeiten Freude an ihrem Kind und ihrem eigenen Leben hat, kann man sie nur bewundern. Schon die Organisation des Alltags stellt für Lillys Mutter eine Herausforderung dar. Aber auch der Blick in die Zukunft macht ihr Sorgen.
Auf welche Schule wird Lilly einmal gehen? Wird sie je einmal ihr Leben selbständig führen können? Wie Lilly sich einmal entwickeln wird, steht in keinem medizinischen Lehrbuch. Auf sie passt kein pädagogisches Konzept. „Diese Ungewissheit hat mich schon oft nicht schlafen lassen“, sagt die Mutter.
Lilly

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Ab dem Schuljahr 2007 ist Lilly schulpflichtig und wird eine so genannte Außenklasse besuchen. 2003 wurde zum ersten Mal an der Grundschule Neckarhausen im Kreis Esslingen eine Außenklasse in Zusammenarbeit mit der Bodelschwinghschule in Nürtingen eingerichtet. Die Kinder werden von Lehrern der Bodelschwinghschule für behinderte Kinder in den Räumen der Grundschule betreut. In einigen Fächern findet ein gemeinsamer Unterricht mit den behinderten und nicht-bekinderten Kindern statt, um das Miteinander zu stärken, den Kontakt von behinderten Kindern zu nicht-behinderten aufzubauen und Berührungsängste auf beiden Seiten abzubauen.
Diese Chance ermutigt Antje Abt und gibt ihr wieder Hoffnung:„Lilly hat uns immer wieder überrascht. Wenn wir schon glaubten, das lernt sie nie, dann konnte sie es auf einmal doch. Sie hat sich jetzt schon besser entwickelt, als viele Spezialisten geglaubt hatten. Ich habe daher immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, dass Lilly einmal eine ganz normale Schule besuchen kann.“

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